Das Herz der Welt

… oder (kein) Plan B

Aktuelle Position: Anonymes Airport-Hotel nahe dem Flughafen Medellin, Kolumbien

Mit Widerwillen packe ich meine erst kürzlich ausgepackten Sachen in die Kompressionsbeutel und dann in meinen Rucksack. Noch einmal habe ich die warme Dusche und die bequeme Liege am Pool genossen, bevor die Reise weitergeht. Bereit fühle ich mich nicht. Obwohl sich mein Körper einigermaßen erholt hat, ist mein Geist nach wie vor müde und erschöpft, die Seele raunt leise: „Bleib hier“. Verschiedene Szenarien, wie es weitergehen könnte, habe ich im Geiste durchgespielt. Einige scheitern schlichtweg am finanziellen Aspekt, andere fühlen sich nicht stimmig an. Einen wirklichen Plan B habe ich nicht. Aber immerhin finde ich einen Kompromiss: Wie geplant werde ich zusammen mit Guido nach Minca, in die Sierra Nevada im Hinterland Santa Martas, reisen. Die Fahrt ist kurz, das Klima soll angenehm sein, die Natur atemberaubend schön. Jedoch werde ich nicht in der bereits gebuchten, abgelegenen Lodge hoch oben auf dem Berg nächtigen, sondern ein Zimmer in einem kleinen Kolonialhaus im Ort beziehen. Dort steht mir eine Küche zur Verfügung und ich bin nahe dran an allem, was ich brauchen könnte. Ich will meinem Verdauungssystem aktuell keine überwürzten, fettigen Speisen zumuten. In der Lodge wäre ich abhängig von den dort angebotenen Mahlzeiten. An für sich mag ich das Konzept: Alle Gäste treffen sich an großen Holztischen dreimal täglich zum Essen. Gekocht wird biologisch und vegetarisch. Aber schon einige Male habe ich in Kolumbien mehr als schlechte Erfahrungen beim bzw. nach dem Essen gemacht und bin somit ein gebranntes Kind.

Meine Bleibe in Minca

Upcycling – wer erkennt das Material?

Das von mir ausgewählte Domizil liegt ruhig am Ende einer Sackgasse. Mein Zimmer ist zwar klein, die Gemeinschaftsküche und die zur Verfügung stehenden Räume sind jedoch sehr großzügig und gemütlich. Ich stelle meinen Rucksack ab, rümpfe kurz die Nase, weil schon wieder ein nicht angenehmer Geruch in meiner Wahrnehmung auftaucht und begleite dann Guido „auf den Berg“. Neugierig auf die von vielen Travellern hochgelobte Lodge bin ich schon. Da wir nicht stornieren können und sowieso die Logis für uns beide bezahlen müssen, werde ich einchecken, um ab und an die Annehmlichkeiten wie z.B. den Infinity Pool, genießen zu können. Alleine die Fahrt mit dem Mototaxi zur „Mundo Nuevo“ ist ein Abenteuer für sich. Hut ab vor den Fahrern, die uns gekonnt über eine Buckelpiste, durch Flüsse und Rampen mit über 25 Prozent Steigung transportieren. Ganz davon zu schweigen, dass Guidos Gepäck auch noch mit an Bord ist. Die Luft auf dem Berg ist frisch und klar, die Anlage wunderschön und gepflegt. Das Zimmer ist ebenfalls extrem klein und so sind wir beide froh, dass wir nochmals jeder für sich ein Einzelzimmer genießen können. Flinken Schrittes marschiere ich bergab in den Ort und nehme zur Kenntnis, dass auch hier der Tourismus alles „überrollt“ hat. Es geht zu wie im wilden Westen und ich flüchte schnell in meine kleine Oase. Schon wieder spielt mir mein Geruchssinn einen Streich: Ich empfinde sowohl mein Badezimmer als auch mein Schlafzimmer als extrem „parfümiert“. Obwohl das Haus in einer ruhigen Straße liegt, dringt bis spät nachts die laute Musik aus den Kneipen im Ort an mein Ohr. An Schlaf ist nicht zu denken.

Riesen-Hängematte

Wunder der Natur

Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Guido zum Frühstücken in einem Café, bevor wir zu einem der um Minca herum verstreuten Wasserfälle wandern wollen. Die Preise überraschen uns, richtig teuer ist es hier. Zudem haben wir gehört, dass in der Gegend Sandmücken ihr Unwesen treiben. Unglaublich schmerzhaft und unangenehm sollen die Bisse sein. Daher sind wir bewaffnet mit Chemiekeulen und haben uns beide vor Verlassen des Hauses ordentlich „eingenebelt“. Wunderbar grün ist es, sobald wir den Ort hinter uns lassen. Die Sierra Nevada de Santa Marta ist das höchste Küstengebirge der Welt. Sie ist nicht nur für ihre immense Artenvielfalt bekannt, sondern beherbergt verschiedene indigene Völker, die ihre Traditionen und Bräuche bis heute bewahrt haben. Für diese Gemeinschaften hat die Sierra Nevada eine spirituelle Bedeutung, sie ist das „Herz der Welt“. Leider scheint der Wasserfall bereits genauso „vermarktet“ zu sein wie der Ort selbst: Wir bezahlen Eintritt, es gibt ein Restaurant und die obligatorischen „Riesen-Hängematten“. Als wir den Weg fortsetzen, der sich nun von einer Piste in einen schmalen Pfad wandelt und den Berg hinaufwindet, wird es einsam und ruhig. Wir genießen die tropische Natur mit der Vielzahl an Vögeln – und Sandmücken! Nach dem Ausflug suche ich erneut die Ruhe in meiner Bleibe und treffe auf ein junges, deutsches Paar. Nach einer angeregten Unterhaltung mit den beiden hoffe ich auf eine frühe Nachtruhe sowie tiefen Schlaf. Weit gefehlt! Es ist Freitag und das Partyleben im kleinen Örtchen nimmt Fahrt auf. Heute ist Techno angesagt. So gar nicht passen die laute Musik, die überall angepriesenen Magic Mushrooms und die Party-Kultur in diese Gegend. Mit einer Vielzahl neuer Bisse bzw. Stiche erwache ich aus einem unruhigen Schlaf, den ich erst in den frühen Morgenstunden gefunden habe. Für den heutigen Workshop „From Farm to Table“ auf einer Permakultur-Finca sind unbedingt lange Klamotten angesagt.

Pim in seinem Element

Ananas

Pim, ein Holländer, hat vor neun Jahen seinen Plan B verwirklicht und unterhalb der Lodge „Mundo Nuevo“ damit begonnen, eine ehemalige Rinderfarm in eine Permakultur-Farm umzugestalten, die genau diesen Namen trägt: Plan B. Liebevoll begrüßen er und seine Frau Anne unsere kleine Gruppe mit einem kalten Getränk. Sofort fühle ich mich wohl, Wärme und Leichtigkeit breiten sich in mir aus. Hier kann ich das Herz der Welt, welches man der Region zuschreibt, spüren. Anne, die aus der Nähe von Nürnberg stammt, eröffnet die Veranstaltung mit einer kurzen Meditation, die mir unheimlich gut tut. Pims Führung über das Gelände und seine kurzweilige Erklärungen begeistern sowohl Guido als auch mich. Die trotz langer Kleidung neu hinzukommenden Stiche und Bisse bemerken wir zunächst kaum. Nach unserem Streifzug werden wir in die Geheimnisse der stachelfreien Bienen eingeweiht, welche Teil des Ökosystems hier sind und einen extrem hochwertigen Honig produzieren. Pim öffnet für uns einen seiner Bienenkästen, was in diesem Fall ohne Gefahr möglich ist, und ich bin fasziniert. Im Anschluss verwöhnt uns Anne mit einem veganen Menü, das ausschließlich eigene Produkte enthält. Für mich ist es mit Abstand das wundervollste Mahl in Kolumbien, wenn nicht sogar auf unserer bisherigen Reise. Dass sie uns abschließend einen Einblick in die Geheimnisse des Fermentierens gewährt ist die Krönung für mich, da ich mich diesem Thema seit geraumer Zeit widme und vor unserer Abreise selbst zuhause fermentiert habe. Traurig bin ich, dass ich zum Neumond nicht mehr in Minca sein werde. An diesem Tag bietet Anne einen Workshop an, der unter anderem eine Kakaozeremonie beinhaltet und mich unheimlich anspricht.

Soulfood

Bienenstock

Da es vom „Plan B“ zur „Mundo Nuevo“ nur noch 20 Minuten und 200 Höhenmeter sind, begleite ich Guido heute auf den Berg. Ich werde dort schlafen. Samstags strömen noch mehr Menschen nach Minca, um der Hitze an der Küste zu entkommen und vermutlich wird es wiederholt eine laute Partynacht werden. Wir genießen sowohl die Abkühlung im Pool als auch einen spektakulären Sonnenuntergang und sammeln weiterhin Bisse und Stiche ein. Auch Annes ölhaltige Lotion hilft nicht einhundertprozentig gegen die Sandfliegen. Ich bin mittlerweile komplett „schmierig“: Sonnencreme, Anti-Mücken-Spray und als Finish das Öl. Direkt nach dem Duschen muss die Prozedur sofort wiederholt werden. Die Biester nutzen jede ungeschützte Sekunde aus. Nachdem wir wissen, dass die Küche hier von Pim beliefert wird, schmeckt das Abendessen vorzüglich und ich genieße die angenehme Gesellschaft der anderen Gäste. Nachts plagen mich die schmerzhaften Stiche – beide Beinrückseiten sind heiß, rot und geschwollen – sowie mein unruhiger Geist. Immer noch bin ich unschlüssig, ob ich die Reise fortsetzen werde. Ich male mir aus, wie es wäre, in ein paar Tagen nach Hause zu kommen, die Wohnungstür aufzuschließen… – und dann? Ich weiß es nicht! Die schlaflosen Nächte zerren an meinen Nerven, mein geplagter Körper macht mir zu schaffen, ich bin verzweifelt. Frisch ist die Luft, als ich am nächsten Morgen zu einer kleinen Wanderung aufbreche, die mich zurück in den Ort und zu meiner Bleibe führen wird. Guido möchte ganz bewusst ruhen und nichts tun. Ich werde mir ein gutes Essen in der Küche zubereiten und dann ebenfalls versuchen, Ruhe zu finden. Ich genieße das Gehen in meinem Tempo, die üppige Natur, das Konzert der Vögel. Mit jedem Schritt kann ich besser atmen, werde ich innerlich ruhiger, fühle mich etwas mehr entspannt. Dies währt bis zu dem Moment, in dem ich mein Zimmer aufschließe und es nicht fassen kann: Es schimmelt! Fast der komplette Fußboden ist feucht und mit etwa drei Zentimeter hohen Sporen bedeckt. Zum Glück lagert mein gesamtes Hab und Gut auf einem Regal. Nun ist mir klar, warum der übertriebene Parfumduft notwendig war!

Sonnenuntergang in der Sierra Nevada

Ein neuer Tag

Hier kann ich nicht bleiben. Ich informiere Guido und nehme Kontakt zu meiner Vermieterin auf. Sie wiegelt die Sache ab und schreibt von „Kalksedimenten“, die unbedenklich seien. Gleichzeitig bietet sie mir sofort an, das Geld für die verbleibenden Nächte zu erstatten, wenn ich abreisen möchte. Der Fluch der Karibik klebt wie Kaugummi an mir. Ich packe meine Sachen und lasse mich samt Monster-Rucksack von einem Moto-Taxi auf den Berg zu Guido bringen. Mein Körper reagiert: Die Übelkeit kehrt zurück. Ich muss mich hinlegen und verbringe schon wieder einen Nachmittag und Abend im unruhigen Dämmerschlaf. Am nächsten Tag brechen alle Dämme bei mir. Wie ein Schlosshund muss ich weinen und liege schluchzend in Guidos Armen. Ich kann es sehr schlecht ertragen, wenn mein Körper „zerstört“ wird und leidet. Seit jeher liebe ich die Aussage der Yoga-Philosophie, dass der Körper ein Tempel ist, um den man sich hervorragend kümmern und der möglichst rein und unversehrt sein soll. Mein Körper ist derzeit eine Ruine, kein Tempel. Der Schlafentzug tut sein übriges und ich bin mir sicher: Von unserer nächsten Destination aus kann ich non-stop und zu einem günstigen Preis nach Hause fliegen – das werde ich tun!

Alles ist bereit für meine Session mit Anne

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft

Bevor wir Minca und somit auch die stechenden Plagegeister hinter uns lassen, habe ich noch eine Verabredung: Da ich bei Annes Neumond-Workshop nicht dabei sein kann, habe ich ein Einzel-Coaching mit ihr vereinbart. Anne lebt seit fünfzehn Jahren in dieser Region und pflegt intensive Verbindungen zu den indigenen Stämmen. Müde und von Zweifeln begleitet schleppe ich mich zu unserem Termin. Doch bereits beim Betreten des Geländes spüre ich wieder diese Wohligkeit in mir. Vor Beginn unserer Sitzung reinigt Anne mich mit weißem Salbei, der Rauch darf die negativen Energien, darf den Fluch der Karibik, mitnehmen. Ein eigens für mich zubereiteter Kakao sowie eine mit der schamanischen Trommel begleitete Meditation sind die Basis für die weitere „Arbeit“. Es geht um die Vergangenheit, um die Gegenwart und vor allem um die Zukunft. Ohne mich zu kennen, ohne etwas über mich zu wissen zeigt mir die gewählte Methode mit großer Klarheit mein ureigenes Wesen, meinen tiefsten Kern auf. Der bisher zurückgelegte Weg, meine aktuelle Situation – alles macht Sinn. Ich erkenne die Zusammenhänge. Zwei Fragen habe ich mitgebracht: Werde ich diese Reise fortsetzen? Und wie wird meine Zukunft nach der Reise aussehen? Beide werden beantwortet. In dieser Nacht schlafe ich wie ein Baby, wie ein Stein: Traumlos und tief. Erholt und ruhig reise ich am nächsten Tag ab. Wir verlassen die Küsten-Region, nehmen unzählige Stiche und Bisse sowie neue Erfahrungen mit, lassen aber ganz sicher den Fluch der Karibik zurück.

Mir hat die Unterstützung von Anne sehr geholfen. Wir können noch so erfahren, belesen und weise sein – hin und wieder benötigen wir Impulse von außen. Immens wichtig ist es, immer wieder zu prüfen, wo wir gerade stehen, uns klar zu machen, wo wir hin möchten und ob wir auf dem richtigen Weg sind. Allzu schnell gehen die Tage, Wochen und Monate ins Land und manches Mal zieht im Alltagstrott das Leben an uns vorbei. Natürlich sind individuelle Coachings oder Behandlungen meistens kostspielig, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich immer wieder lohnt. Wann hast Du Dir das letzte Mal etwas in dieser Art und Weise gegönnt?